Völkischer Nationalismus für Kinder im Kinzigtal

Auf einem abgelegenen Hof in Welschensteinach findet Mitte Juni ein ganztägiges Seminar zum Thema Mathematik statt. Angesprochen sind Eltern und Schüler ab 12 Jahren, kleinere Kinder werden betreut. Die Teilnehmer kostet das 120 Euro, Minderjährige zahlen die Hälfte.

 

Warum interessieren wir uns für eine Bildungsveranstaltung in einer kleinen Gemeinde des Ortenaukreises mit 4000 Einwohnern? Das Seminar auf dem Christhof im Kinzigtal hält der selbsternannte Reformpädagoge Richard Kandlin ab. Er vertritt die sogenannte Schetinin-Pädagogik und war Lehrer an Schulen in Russland und Österreich, die von Sekten betrieben und 2019 wegen zweifelhafter Unterrichtsmethoden behördlich geschlossen wurden.

 

Zweifelhafte Pädagogik

 

Kandlins pädagogische Ansätze stammen aus Russland. Sie wurden vor rund 20 Jahren von Michail Schetinin in einem Privatinternat in Tekos am Schwarzen Meer in der Region Krasnodar entwickelt und entbehren jeder wissenschaftlichen Grundlage. Ehemalige Schüler hatten nach Auflösung des Internats in russischen Medien von Isolation, Körperstrafen, Kampfsport (Sambo) und Zensur berichtet.

 

Schetinins Konzept baut auf dem „Kontakt des bioenergetischen Feldes“ oder der „sich berührenden Kräfte“ im offenen und freien Miteinander auf, die zwischen Schülern auftreten: Das nennt er „Wissens-Osmose“, die er als Grundlage dafür sieht, dass die Kinder sich hauptsächlich gegenseitig unterrichten (KiEP = Kinder entwickelte Pädagogik). So sei es möglich, das Mathematik-Wissen aus elf Schuljahren in nur zehn Tagen zu lernen – ebenso den Stoff aller anderen Fächer. Deshalb legen die Schüler an der Schetinin-Schule ihr „Abitur“ innerhalb von nur ein bis vier Jahren ab.


Der Kult um die völkisch geprägte Lernmethode breitet sich über Österreich und die Schweiz nach Deutschland aus, inklusive der Verehrung russischer Politik und Putin-Propaganda. Im deutschsprachigen Raum treten Botschafter einer „Bildung der neuen Zeit“ abseits der staatlichen Schulen auf; nicht selten mit großer Nähe zur Esoterik- und Reichsbürgerszene oder zur AfD. In Baden-Württemberg vertreibt Richard Kandlin von St. Leon-Rott aus entsprechende Videos und sein Unterrichtsmaterial, das er mit den deutschlandweiten Vorträgen bewirbt. Am 24. Juni ist Kandlin in Pirna bei Dresden, im Juli in Frankfurt.

 

Völkisch-nationale Wurzeln

 

Die russische Pädagogik wurzelt in der völkisch-nationalistischen Anastasia-Bewegung, die der Verfassungsschutz seit kurzem als rechtsextremen Verdachtsfall beobachtet. Die Anastasia-Bewegung richtet sich an der zehnbändigen Buchreihe des Russen Wladimir Megre über eine fiktive russische Seherin und Heilerin aus, und erfreut sich in der Querdenker- und Verschwörungsszene großer Beliebtheit. Überall in Deutschland, auch südlich von Freiburg und im Allgäu, errichtet die völkisch-nationale Bewegung seit einem Jahrzehnt Familienlandsitze. Die Betreiberfamilien werben mit gemeinsamen Aktivitäten wie Handwerken, Singen oder Tanzen für das Mitmachen, für Unterstützung und für Spenden. Für die Bildung von Kindern und Jugendlichen wird immer wieder auch „die russische Waldschule in Tekos“ angepriesen – damit ist das Internat Schetinins am Schwarzen Meer gemeint.

 

Wie der Anastasianismus fällt die Schetinin-Pädagogik bei Freilernern, die ihre Kinder abseits staatlicher Kontrolle unterrichten wollen, auf fruchtbaren Boden. Die Anastasia-Bewegung verbindet ökologische Ansätze, sozialutopische Vorstellungen von Lebensgemeinschaft und antidemokratische Strömungen mit Formen der Verschwörungsesoterik und des Antisemitismus. So bietet sie für viele Gruppen Anknüpfungspunkte – etwa für Naturliebhaber, Öko-Bauern, Esoteriker, Schulverweigerer, Nationalisten, Identitäre, Reichsbürger oder Holocaustleugner.

 

Anastasia-Bewegung und Schetinin-Pädagogik verbinden die Swastika, das Hakenkreuz, als unbelastetes Symbol mit einem eurasischen Verständnis von Ariertum, das zu einer krisenfesten, weil überlegenen Naturverbundenheit zurückführen soll. 

 

Auch unter esoterischen Querdenkern, Impfgegnern oder Obst- und Gemüsezüchtern in der Ortenau ist solches Gedankengut verbreitet – eine ganze Generation von Kindern wird in den prorussischen Bewegungen mit Verschwörungserzählungen antidemokratisch erzogen!

 

Der Anastasianismus wird häufig als „braune Ideologie auf grünem Grund“ bezeichnet: Vordergründig geht es um spirituelle Visionen, Weissagungen und Anweisungen für ein Leben in einer paradiesähnlichen friedlichen Welt. Unter dem Deckmantel einer esoterischen Naturromantik verbreitet sich jedoch eine nationalistische, antisemitische, rechtsextremistische, verschwörungsgläubige und homophobe Ideologie, in der Demokratie als das Werk von Dämonen abgelehnt wird. Veranstaltungen der Anastasia-Bewegung haben schon 2015 in Fischerbach/Kinzigtal stattgefunden. Die Romane um die arische Heilsbringerin Anastasia konnte man noch vor kurzem in einem Esoterik-Laden in Haslach erwerben.

 

Kindeswohl im Kinzigtal

 

Auf dem Christhof in Welschensteinach und auch im sogenannten Ganesha-Haus im benachbarten Fischerbach finden weitere bedenkliche Vorträge statt – regelmäßig vor rund 100 Zuhörern aus dem Esoterik-, Öko- oder Kunstbetrieb der Ortenau. So berichtet beispielsweise die rechtsesoterische Christa Jasinski vom thüringischen Anastasia-Familienlandsitz Talmühle gern aus den Tagebüchern ihres verstorbenen Mannes Alfons, der als ehemaliges Mitglied eines „Mystischen Ordens Hermetischer Lehren Atons“ (M.O.H.L.A.) beauftragt worden sei, in Tagebüchern über die Zivilisation im Inneren der Hohlerde zu berichten. Dabei geht es um soziale, wirtschaftliche und politische Missstände „hier oben“, um Mysterien, Religionen, außerirdische Einflussnahmen auf die menschliche Evolution, esoterische Heilmethoden, pseudomedizinische Diagnosetechniken oder um Äonen und Archonten. Auf dem Christhof war auch schon der rechte Liedermacher Eloas min Barden (Jens Eloas Lachenmayr) zu Gast, der sonst bei Querdenken und auf Veranstaltungen der völkischen und antisemitischen Anastasia-Bewegung auftritt.

 

Wir stechen in ein Wespennest, in dem es auch in Baden-Württemberg längst seit Jahren brummt und das nur durch den Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen sichtbar geworden ist: Nicht nur die Schulämter, sondern auch die Staatsanwaltschaften sollten diese Aktivitäten sorgfältig in den Blick nehmen. 

 

In den jährlichen Berichten der Verfassungsschutzämter tauchen die völkisch-nationalistischen und antisemitischen Bewegungen bislang nur vereinzelt auf (zum Beispiel in Brandenburg) und erst seit diesem Monat beobachtet der Verfassungsschutz die Anastasia-Bewegung bundesweit als rechtsextremen Verdachtsfall: „Teile der Anastasia-Buchreihe weisen verfassungsschutzrelevante Elemente auf, die mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar sind“, sagt das Innenministerium in Potsdam. Das Treiben im Allgäu, in Südbaden oder im Kinzigtal sollte landesweit und auch vor Ort Polizei, Politik und Schulverwaltung alarmieren: Es geht um die soziale Gesundheit der dort aufwachsenden Kinder!